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Inge Bischoff, Bärbel Meyer-Klinge, Claudia Speer und Dr. Wolfgang Weimer
ANNIE DUNNE
Sebastian Barry
Roman, gebunden, 280 Seiten, Steidl Verlag, Göttingen 2021
Übersetzt aus dem Englischen: Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
Zum Autor:
Sebastian Barry, geboren 1955 in Dublin, ist ein irischer Dramatiker und Roman-Autor und lebt im County Wicklow, südlich von Dublin. Er studierte Englisch und Latein am Trinity College in Dublin und zählt zu den anerkanntesten Autoren Irlands.
Barrys bekanntester Roman „A Long Long Way“ (2005) erzählt die Geschichte eines jungen Rekruten der Royal Dublin Fusiliers, eines Vorfahren Barrys, während des Ersten Weltkriegs.
Er verdeutlicht die geteilte Loyalität der Iren gegenüber Irland und England zur Zeit des Osteraufstands 1916. „Annie Dunne“ ist ein Frühwerk Barrys aus dem Jahr 2002. Es ist sein zweiter Roman, der ihn aber bereits auf der Höhe seiner Kunst zeigt.
Die Protagonistin Annie Dunne ist die Schwester dieses Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Es gibt aber keine wesentlichen Berüh-rungspunkte oder Ansätze einer Familienchronik.
Zum Inhalt:
So unspektakulär wie die Hauptfigur ist auch der Titel dieses Buches. „Annie Dunne“ ist eine grandios-einfache Geschichte über das trügerisch-einfache (und auch ungelebte) Leben im ländlichen Irland der 1950er-Jahre. Annie Dunne käme wohl nicht auf die Idee, ihre Geschichte mit ihrem eigenen Namen zu betiteln und bezeichnet sich selbst als „einsames Nichts“. Sie ist keine wirklich sym-pathische Person. Abweisend und in allerlei Vorurteilen verfangen, erscheint sie ihrer Umwelt. Annie hatte nie eine Beziehung, das mochte an ihrer schroffen Art liegen oder aber an der körperlichen Beeinträchtigung nach einer Polioerkrankung in der Kindheit. Eine Ausbildung war für Mädchen in den 1950er-Jahren keine Selbstverständlichkeit. Sebastian Barry ist aber ein großartiger Menschenporträtist und blickt auf ihren Charakter, der hinter der rauen Schale ganz anders aussieht.
Im Buch beschreibt der Autor einen Sommer im Leben der Endfünfzigerin Annie Dunne. Sie führt ein beschwerliches, aber auch beschauliches Leben – bis sich dunkle Schatten darüberlegen. Zusammen mit ihrer ebenfalls unverheirateten gleichaltrigen Cousine Sarah, die ihr nach einem familiären Missklang Unterschlupf gewährt hat, lebt sie auf einem kleinen Bauernhof in den Wicklower Bergen. Die beiden Frauen kümmern sich um das Anwesen mit Haus Hof, Garten und den wenigen Tieren und haben ihr Auskommen, auch wenn das Leben hart ist und Wetter und Natur gnadenlos sind. In dieses Leben bringt Annies Neffe für einen Sommer seine beiden Kinder, einen 5-jährigen Jungen und seine etwas ältere Schwester. Annie ist trotz ihrer Sprödigkeit erfüllt von Liebe zu diesen Kindern, merkt aber, dass diese nicht nur unschuldig-arglose Wesen sind, sondern ebenfalls mit Ängsten und Schwierigkeiten zu kämpfen haben, was bei Annie Zorn hervorruft. Gleichzeitig erwächst in ihr die Gefahr, dass ihre Cousine einen Arbeiter aus der Nachbarschaft heiraten könnte, sodass Annies sicheres Zuhause gefährdet wäre. Sie kämpft gegen diesen Mann, und mit dieser Verzweiflung kommen die schlimmsten Seiten ihres Charakters ans Licht. Sie fürchtet, in der „Anstalt“ zu landen. Das war oft der einzige Ausweg für unverheiratete, unversorgte Frauen früherer Zeiten. Und Endstation auch für ihren Vater, der dort in geistiger Umnachtung und Elend starb, nachdem er als angesehener Mann in Armut geraten war. Das harmonische Zusammenleben mit ihrer Cousine ist für sie ein Halt, den sie mit aller Kraft verteidigt – sieht sie doch durch das Werben des Farmarbeiters ihren erhofften ruhigen Lebensabend bedroht.
Stellenweise erinnert „Annie Dunne“ auch an Bücher von Colm Tóibín, besonders an den Roman „Nora Webster“, in dessen Zentrum ebenso eine eigenwillige, einprägsame Frauenfigur steht.
Geduldige Leser werden für ihre Auseinandersetzung mit Barrys Roman belohnt; er bereichert die Literaturlandschaft fernab einer „Heile-Welt-Poesie“ mit einer faszinierenden, vom Schicksal erheblich geprägten Frau.
Der Autor lässt seine Geschichte bewusst unvollendet und alles Entscheidende unausgesprochen, so wie auch Annie Dunnes Leben unvollendet bleibt.
Inge Bischoff
April/Mai 2022
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