Unser aktuelles Buchtippgeber-Team: Inge Bischoff, Bärbel Meyer-Klinge und Claudia Speer
SMALL GODS
Ein Scheibenweltroman. Eine religiös-philosophische Satire.
Terry Pratchett
Englische Originalausgabe: Hrsg. Victor Gollancz Ltd., London, Erstveröffentlichung 1992
Deutsche Fassung: Einfach göttlich
Neuübersetzung aus dem Englischen: Gerald Jung, 2016
Taschenbuch, 384 Seiten, Goldmann-Verlag, München 2016 (Neuausgabe Edition)
Es ist der 13. von 41 Scheibenwelt-Romanen, und es gibt so viele Publikationen, dass die Liste der ISBN lang wäre.
Zum Autor:
Sir Terence David John Pratchett wurde 28. April 1948 in Beaconsfield, Buckinghamshire, geboren und verstarb am 12. März 2015 in Broad Chalke, Wiltshire. Pratchett war seit 1968 mit Lyn Marian Purves verheiratet; ihre Tochter Rhianna (*1976) ist ebenfalls als Autorin tätig.
Pratchett veröffentlichte mit 13 Jahren sein erstes Werk. Nachdem er 1965 von der Schule abgegangen war, begann er im selben Jahr eine Ausbildung zum Journalisten bei einer Lokalzeitung. 23 Jahre später wurde Pratchett zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt.
2003 war er nach Joanne K. Rowling der erfolgreichste Autor Großbritanniens. Seine bekanntesten Werke sind seine Scheibenwelt-Romane, die in 37 Sprachen übersetzt wurden. Weltweit wurden rund 85 Millionen seiner Bücher verkauft.
2009 wurde er für seine Verdienste um die Literatur von der Queen zum Knight Bachelor geschlagen und durfte sich seitdem Sir Terry Pratchett nennen. Am 28. April 2010 verlieh ihm das Clarenceux King of Arms ein eigenes Wappen.
Weitere Auszeichnungen: 2004 Locus Award, 2011 Karl Edward Wagner Special Award, 2011 Margaret A. Edwards Award der American Library Vereinigung.
Leider erkrankte er an Alzheimer und der Sensenmann hat ihn bereits mit 66 Jahren abgeholt. Es gab Petitionen seiner Fans an den Tod, die seine Rückkehr forderten. Doch Tod ließ nicht mit sich verhandeln.
Zum Inhalt:
Nachdem der große Gott Om entschieden hat, sich noch einmal in einem Körper auf der Scheibenwelt zu manifestieren, steckt er im machtlosen Körper einer Schildkröte fest.
Er wendet sich in seiner Not an den Novizen Brutha, der ihn als einziger hört, und muss ihn, weil dieser nicht glaubt, dass der große Om in einem Schildkrötenkörper erscheint, von seiner Göttlichkeit überzeugen.
Brutha hat einerseits ein eidetisches Gedächtnis, kann andererseits nicht lesen noch für sich selbst denken. Er begleitet Vorbis, den Großinquisitior, auf dessen Reise zur Bekehrung des Nachbarstaats, wo Brutha von den Ephebischen Philosophen lernt, eigene Fragen zu stellen und über den Rand der Scheibenwelt hinauszublicken. Die Idee, dass Leute sich die Köpfe heißreden oder einschlagen, obwohl sie vielleicht nicht einmal sicher sind, ob sie an etwas glauben oder verstehen, woran sie glauben, ist absolut neu für ihn. Beide Nationen steuern jedenfalls auf einen Glaubenskrieg zu.
Om entdeckt, dass Brutha sein einziger wahrer Gläubiger ist. Alle anderen verehren ihn aus Gewohnheit oder weil sie die Inquisition fürchten. Er und Brutha schlagen sich durch ein Gewirr religiöser Intrigen, Seltsamkeiten und Gebräuche, als der große Gott Om zum ersten Mal in seinem Leben seine Gläubigen genauer betrachtet und sich um sie zu kümmern beginnt.
Im Gemenge zweier unterschiedlicher Dogmen – nämlich, ob die Schildkröte Groß A’Tuin sich bewegt oder nicht, bedroht Inquisitor Vorbis Oms letzte Manifestation als Schildkröte mit der Vernichtung, und Brutha verhindert, dass Vorbis die Macht ergreift. Dafür soll er öffentlich verbrannt werden, nachdem er sich nicht mit einem Bischofsamt bestechen lässt.
Om verhindert das, indem er die von einem Adler in die Höhe getragene Schildkröte in Bronze verwandelt, die dann wiederum auf Vorbis’ Kopf fällt. Die Zeugen dieses Wunders erneuern ihren Glauben an Om, und der Gott erhält seine alte Macht zurück.
Om offeriert Brutha die Möglichkeit, eine reformierte Kirche zu Oms Vorstellungen zu leiten, doch dieser hat eigene Ideen entwickelt und meint, dass Kirchen sich um Menschen kümmern sollten, und zwar unabhängig von deren Glauben oder religiösen Praktiken. Das große Happy End begründet einen hundertjährigen Frieden, wie es ihn ohne Brutha nie gegeben hätte.
Fazit:
Alle Werke von Pratchett brillieren durch ihren skurrilen Humor und den Hintersinn seiner Betrachtungsweise. Small Gods wurde von Gläubigen und Atheisten gleichermaßen als brillant bezeichnet. Es ist eine herausragende Satire über Sinn und Unsinn von Religion und Spiritualismus. Ganz unpolitisch ist das nie. Doch Pratchett hatte die Gabe, auf den Grund von Menschen und Gesellschaft zu sehen und diese in seinem überzeichneten, ironischen Stil in Worte zu malen, die jeden Widerstand zwecklos machen. Falls Sie ihn noch nie gelesen haben – probieren Sie es aus! Selten gab es einen genialeren Fantasy-Autor als ihn, und wenn Sie erst einmal Feuer gefangen haben, werden Sie begreifen, dass niemand die Welt so einleuchtend erklärt hat wie er.
Der Anfang des Buches aus dem Englischen übersetzt von Claudia Speer:
Betrachten wir jetzt die Schildkröte und den Adler.
Die Schildkröte lebt am Boden. Es ist unmöglich, näher am Boden zu leben, ohne darin begraben zu sein. Ihr Horizont ist nur wenige Handbreit entfernt. Sie hat genau die richtige Geschwindigkeit, die es braucht, einen Salatkopf zu erjagen. Ihre Spezies hat überlebt, während die Evolution an ihr vorübergeflossen ist, im Ganzen, ohne jemanden zu bedrohen oder zu verhungern.
Und dann haben wir da den Adler. Eine Kreatur der Lüfte und höchsten Gipfel, dessen Horizont bis zur Kante der Welt reicht. Ein Auge scharf genug, das Rascheln einer kleinen, schwachen Kreatur einen knappen Kilometer entfernt wahrzunehmen. Voller Kraft und Kontrolle. Blitzartiger Tod auf Schwingen. Schnabel und Klauen genug, eine Mahlzeit aus allem zu machen, das ein wenig kleiner ist als er selbst, oder zumindest einen schnellen Snack von allem zu reißen, was größer ist.
Und doch sitzt der Adler für Stunden auf einem Felsen und beobachtete sein Königreich, bis er eine ferne Bewegung entdeckt. Dann fokussiert und fokussiert er, fokussiert sich auf den kleinen, kriechenden Panzer zwischen den Büschen, dort draußen in der Wüste und dann schwingt er sich in die Luft …
Eine Minute später sieht die Schildkröte ihre Welt kleiner werden und sie sieht sie zum ersten Mal nicht mehr vom Boden aus, sondern aus 1500 Metern Höhe, und sie denkt: Was habe ich doch einen großartigen Freund in diesem Adler.
Und dann lässt der Adler sie fallen.
Und so gut wie immer stürzt die Schildkröte in den Tod. Jeder weiß, warum die Schildkröte das tut. Gravitation ist eine Angewohnheit, die sich nur schwer abschütteln lässt.
Keiner versteht, warum der Adler sich so verhält. Schildkröten schmecken gut, doch wenn man die Anstrengung in Betracht zieht, ist nahezu jede andere Mahlzeit leichter zu beschaffen. Der Adler vergnügt sich daran, die Schildkröte zu foltern.
Was er dabei natürlich nicht begreift, ist, dass er damit eine rudimentäre Form der natürlichen Auslese betreibt.
Eines Tages lernt eine Schildkröte fliegen.
Claudia Speer
März 2023
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