Unser aktuelles Buchtippgeber-Team: Inge Bischoff, Bärbel Meyer-Klinge und Claudia Speer
KLEINE DINGE WIE DIESE
Claire Keegan
Roman, 112 Seiten, Steidl-Verlag, Göttingen, 3. Auflage 2022
Originaltitel: Small Things Like These
Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Christian Oeser
Zur Autorin:
Claire Keegan, 1968 in der Grafschaft Wicklow geboren, ist eine namhafte irische Schriftstellerin. Sie entstammt einer bäuerlichen Familie, und es ist anzunehmen, dass ihre Bücher, zumindest in Teilen, erfahrungsgestützt sind. Sie studierte Politikwissenschaft, und im Anschluss daran erwarb sie einen Masterabschluss in Wales und Irland in kreativem Schreiben. Für ihre 2009 erstmals veröffent-lichte Erzählung Foster, die unter dem deutschen Titel Das dritte Licht veröffentlicht wurde, erhielt sie in Irland und den USA renommierte Auszeichnungen.
Aus diesem Buch las sie 2016 im Pforzheimer Parkhotel im Rahmen der bemerkenswerten Literaturveranstaltung „Sprachsalz“. Sie war zu diesem Zeitpunkt außerhalb Irlands noch wenig bekannt, was sich in letzter Zeit aber änderte. Das Buch Das dritte Licht wurde 2022 als The quiet girl, ebenfalls preisgekrönt, verfilmt.
Kleine Dinge wie diese, mit einem irischen Buchpreis ausgezeichnet, stand auf der Shortlist des Booker Prize 2022.
Keegan lebt in Irland und unterrichtet an der Universität Cambridge.
Zum Inhalt:
Als Vorwort zum Buch Kleine Dinge wie diese steht ein bezeichnender Satz:
„Diese Geschichte ist den Frauen und Kindern gewidmet, die in irischen Mutter-Kind-Heimen und in Magdalenen-Wäschereien gelebt und gelitten haben.“
Der Roman spielt im Dezember 1985, in Zeiten der irischen Rezession, geprägt von hoher Arbeitslosigkeit und steigenden Auswander-zahlen in die USA.
So spiegelt sich darin, auch in der Düsternis der beschriebenen Natur, das ökonomisch und, wie sich herausstellen wird, auch moralisch heruntergewirtschaftete Irland. Dies inszeniert Keegan geradezu beiläufig. Zwar ist das Zentrum von Kleine Dinge wie diese ein handfester, über Jahrzehnte verschwiegener Skandal, doch findet die Autorin einen subtilen Weg, um auf engem Raum, das Buch umfasst gerade einmal 110 Seiten, sowohl die Verdrängungsmechanismen, als auch einen inneren Erkenntnisprozess sichtbar zu machen. Beides vollzieht sich in der Hauptfigur Bill Furlong, dem Kohlen- und Brennstoffhändler von New Ross, ein aufrechter Mann, vaterlos aufgewachsen, der seine sechsköpfige Familie gerade so durchbringt und es sich hin und wieder gestattet, zu träumen. Aus seinen schwierigen Verhältnissen hat er sich hochgearbeitet und Respekt in der irischen Kleinstadt erworben. Eine wohlhabende protestantische Witwe kümmerte sich um ihn, den Waisen, indem sie ihm eine anständige Schulbildung ermöglichte. Es sind „viele kleine Dinge“, an die sich Bill 30 Jahre später dankbar erinnert. Die Fürsorge und Zuwendung dieser Frau ermöglichten ihm den Start in ein bürgerliches Leben. Claire Keegan lässt uns den Stolz des Protagonisten auf seinen bescheidenen Wohlstand spüren und schildert eine Oase behüteter Sicherheit; die gut geratenen Töchter gehen auf die von Nonnen geleitete Mädchenschule, er ist glücklich verheiratet.
Eines Tages stöbert er bei einer seiner Kohlenauslieferungen im oberhalb der Stadt gelegenen Kloster ein verwahrlostes junges Mädchen auf, das ihn um Hilfe bittet.
Doch Furlong weicht aus und fährt ab. Über das Kloster kursieren verdrängte Gerüchte. Die ledigen Mütter dort stehen am Rande der Gesellschaft und leisten Zwangsarbeit, aber man schließt davor die Augen. Furlongs Töchter besuchen die Nonnenschule, die ein guter Kunde von ihm ist. Die Wäscherei hat einen exzellenten Ruf. Ein Konflikt mit dem Kloster könnte für ihn Wohlstands- und Ansehens-verlust bedeuten. Und darüber hinaus, wie könnte er, selbst wenn er wollte, sich gegen die mächtige katholische Kirche stellen und damit die Zukunft seiner Töchter aufs Spiel setzen, die er im katholischen Mädcheninternat anmelden möchte?
Die Autorin schildert in dieser Novelle mit wenigen knappen und beiläufigen Sätzen die Atmosphäre von Angst und steigendem Unbe-hagen, die untergründig trotz weihnachtsseliger Festtagsstimmung aufkeimt. Ganz am Ende entscheidet sich Bill zu handeln. Seine innere Zerrissenheit löst sich erst, als er den Mut zu einer Entscheidung findet. Es bedürfe, wie es heißt, „einer fremden Person“, um Dinge an den Tag zu bringen.
Dicken’s Christmas Carol hat Bill in seiner Kindheit stets getröstet. Claire Keegan hat das Weihnachtsmärchen ins nächste Jahrhundert transportiert.
Am konkreten Beispiel dieses Buches geht es um ein besonders düsteres Kapitel in der Geschichte der katholischen Kirche in Irland. Es gibt inzwischen historische Untersuchungen, wie viele Mädchen und Babys gestorben sind, in diesen in Komplizenschaft zwischen der katholischen Kirche und dem irischen Staat betriebenen Magdalenen-Wäschereien, in denen „gefallene“ Mädchen und Frauen unter dem Vorwand der Rehabilitation Zwangsarbeit leisten mussten.
Erst als 1993 ein Nonnenorden in Dublin einen Teil seines Klosters verkaufte und auf dem Gelände 155 anonym begrabene Leichen entdeckt wurden, konnte man nicht mehr über die Verbrechen in den „Magdalenen“-Wäschereien hinwegsehen.
1996 wurde die letzte der Einrichtungen geschlossen. 2021 konstatierte eine von der Regierung etablierte Kommission, dass 1922 bis 1998 in 18 untersuchten Einrichtungen 9.000 Kinder umgekommen waren, anteilig doppelt so viel wie in der Bevölkerung.
Kleine Dinge wie diese ist ein überzeugendes Plädoyer für Humanität. Die Autorin hat es zwar an einem irischen Beispiel festgemacht, aber es gilt ganz allgemein. Wir könnten auch an die Verbrechen im „Dritten Reich“ oder an die Strukturen der Kirche im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern durch Geistliche denken.
Das Buch ist großartig übersetzt von Hans-Christian Oeser.
Inge Bischoff
Juli/August 2023
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